Anita Suhr, eine weitgehend unbekannte Hamburger Malerin.

Wie nähern wir uns dieser Frau? Und warum in dieser Zeit? Wir leben im 75ten Jahr nach Kriegsende, der Befreiung vom Naziregime. Braune Ideologie lebt wieder auf. Unter uns leben durch Terror, Krieg und Flucht traumatisierte Menschen mit dem Talent zum „dennoch“ – möglicherweise Menschen ähnlich Anita Suhr. Und doch je einzig.


„Mein erstes Gespräch mit Anita Suhr 1975 war vorsichtig, tastend. Und so würde ich die Grundstimmung aller Treffen bezeichnen. Ich habe das respektiert. Mehr erspürt, als erfragt, was es Anita Suhr unmöglich machte mit ihrer Kunst, ihrem Potential nach Außen zu treten.“ –Joachim Künkel

Es gab verschwommene Andeutungen: „Ich kann nicht ausstellen, da sind doch die Nazis noch, die erkennen mich … Ich habe Angst und erschrecke mich vor gestreifter Kleidung, ich schaffe es ja gerade noch in die Kunsthalle …“. Sicheren Raum, insbesondere nach durchschreckten Nächten, gab ihr die Kunst bewahrt in der Ordnung und Ästhetik ihrer eigenen vier Wände.

Was ihr widerfuhr, erschloss sich fragmentarisch erst Jahre später über papierene Dokumente. Aus Belegen der Prozessakte zum Wiedergutmachungsverfahren, das Joachim Künkel im Archivkeller der alten Anwaltskanzlei von Max Fink fand. Weiter fanden sich dünne Spuren im Archivmaterial der Haftanstalten und Gedächtnisstätten. Haftzeiten ließen sich zum Beispiel durch Verpflegungskostenabrechnungen belegen. Es gab noch Transport- und Zugangslisten. Aber wirklich aussagekräftige Belege, wie die Urteile in Hochverratssachen der Hamburger Justiz, wurden zum Ende der NS-Zeit vernichtet. Die Täter wussten, was sie getan hatten.


Die am 23. September 1900 geborene Anita Suhr stammte aus einer einfachen Kaufmannsfamilie und besuchte bis zu ihrem 16. Lebensjahr die Timmermann’sche Höhere Mädchenschule und anschließend die Staatliche Gewerbeschule, um Modezeichnerin zu werden. Sie vollendete ihre Ausbildung durch ein Studium an der Kunstgewerbeschule/Landeskunstschule Lerchenfeld (8 Semester).

Ab 1922 war sie als freiberufliche Kunstmalerin tätig. Teilgenommen hat sie an der Gestaltung der Räume bei Künstlerfesten, u.a. „Götzenpauke“ 1921. Eigene Ansprüche und Selbstzweifel prägten die junge Künstlerin.


Von 1933–1935 übte Anita Suhr Propaganda gegen das nationalsozialistische Regime. 1934 nahm sie Verbindung zu einer illegalen Oppositionsgruppe auf.

Am 2.11.1935 wurde sie verhaftet und am 25.11.1936 wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu 5 Jahren Zuchthaus und 5 Jahren Ehrverlust verurteilt.
Jede berufliche Tätigkeit als Malerin und Graphikerin wurde ihr verboten.


1935–1941

Die Gestapo Hamburg besteht auf Einzelhaft (gemäß Haftakte Moringen):

„Bei den aus Hamburg überstellten sieben Frauen handelt es sich um recht verstockte Personen, die sich trotz der hier vorliegenden Beweise nicht zu einem Geständnis bequemen können, […] die Suhr hat ein Hochverratsverfahren zu erwarten, das ihr nach Sachlage eine höhere Strafe einbringt. Diese Strafe wird deshalb hart ausfallen müssen, weil sie eine unverbesserliche Kommunistin ist, die in ganz eigensinniger verbissener Weise diese Ziele verfolgt und deshalb auch eine Gefahr für die übrigen Häftlinge bedeutet, mit denen sie in Berührung kommt.“

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Erste Gestapohaft Hamburg 04.11.1935 – 11.12.1935

Frauenschutzhaftlager Moringen, bei Göttingen 12.12.1935 – 05.02.1936

Zweite Gestapohaft Hamburg, im KZ Fuhlsbüttel  07.02.1936 – 30.04.1936

Untersuchungshaft Hamburg, Holstenglacis 01.05.36 – 30.11.1936 

Verurteilung wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu fünf Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust durch das Hanseatische Oberlandesgericht (Az. O.Js. 78/36) 23.11.1936

Das Urteil ist nicht auffindbar. Die Auskünfte des Staatsarchivs Hamburg und des Landesarchivs Schleswig-Holstein lassen darauf schließen, dass die Akten zu Hochverratssachen der NS-Zeit während des Zusammenbruchs des NS-Staates vernichtet wurden.

Zuchthaus Hamburg Fuhlsbüttel November 1936 – 28.05.1937

Verlegung in das Zuchthaus Lübeck Lauerhof, dann Frauenhaftanstalt Laufen-Leoben an der Salzach 28.05.1937

Konzentrationslager Ravensbrück 14.12.1940 – 03.01.1941

Alle Haftanstalten in jener Zeit waren bereits fest in der Hand von nationalsozialistischem Verwaltungs- und Bewachungspersonal und müssen als KZ charakterisiert werden.


Die Einsamkeit der Zelle, Verhöre, das Geratter der Transportzüge, Kälte, Regen, Hunger, Geschrei des Wachpersonals und Bellen der Wachhunde, physische und psychische Gewalt, Krankheit, Schmerzen, Schwäche, Angst. Über fünf Jahre Alltag für Anita Suhr.


Am 03.01.1941 wurde Frau Suhr nach Hause entlassen unter der Auflage sich auf dem elterlichen Grundstück Duvenstedt, Puckafferweg 100 bei fortbestehendem Berufs- und Betätigungsverbot aufzuhalten.

Dies wurde laufend überwacht.


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Sie „arbeitete in Haus und Garten, sammelte und verkaufte Beeren, pflegte ihre kranke Mutter“. Ein kleines Landschafts-Aquarell trägt den Zusatz „noch Berufsverbot”.

 

1950–1961

Bis in die 1960er Jahre zogen sich die sehr belastenden Auseinandersetzungen um Leistungen der Eigenunfallversicherung Hamburg bzw. mit dem Amt für Wiedergutmachung hin. Es ergibt sich ein erschütternder Einblick in die Haltung der Deutschen Fachärzteschaft für Neurologie und Psychiatrie. Entgegen dem Stand der Wissenschaft im europäischen Ausland, wo es schon in Folge des Ersten Weltkrieges eine ausgewiesene Traumata-Forschung gab, herrschte hier eine Abwehrhaltung vor, die sich zwischen Feststellbarkeit rein körperlicher Schäden und dem Begriff „Rentenneurose“ bewegte.

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Im ersten Nervenfachärztlichem Gutachten vom 18.10.1948 des Facharztes für Neurologie Dr. Müller-Jensen heißt es: "KZ-Haft von 2.10.1935 bis 3.1.1941. Musste während dieser Zeit in einer Forstkultur arbeiten bei schlechten Witterungsverhältnissen, außerdem war sie häufig gezwungen mit nassen Kleidern zu arbeiten. Damals traten Schmerzen im rechten Bein auf [...] meldete sich beim Lagerarzt, der sie aber nicht untersuchte. [...] Beschwerden hängen zum Teil von der Witterung ab [...] Psychisch: Sachliche, glaubhafte Angaben, fängt während der Untersuchung zu weinen an, was ihr sichtlich peinlich ist. Sie könne sich schwer mitteilen. Sei in ihrem ganzen Wesen gehemmter geworden seit der Haft. Dadurch in ihrer Produktivität als Malerin erheblich behindert [...] Beurteilung: Restzustand einer alten Neuritis ischiadica des r. Beines [...] allgemeine psychische Erschöpfbarkeit und leichte Übererregbarkeit als Folge der schweren psychischen und körperlichen Belastungen, denen sie während ihrer Haft ausgesetzt war. Sie ist dadurch in ihrer Schaffenskraft als Malerin noch erheblich beeinträchtigt. Es ist aber zu erwarten, dass hinsichtlich dieser Beschwerden eine Besserung eintritt. Z.Zt. noch eine Erwerbsminderung von 40–50% [...]"

Am 18.06.1950 gutachtet Dr. Müller-Jensen: "Zweifellos muß gegenüber dem früheren Untersuchungsbefund eine Besserung festgestellt werden, [...] wenn auch eine Neigung zu depressiver Stimmungslage noch deutlich ist. Diese kann aber nach der verstrichenen Zeit nicht mehr allein in den Belastungen gesehen werden, denen sie während der vergangenen Zeit ausgesetzt war, sondern hier spielen konstitutionelle Momente und die Lebensphase, in der sich Frl. S. befindet eine Rolle (Involution) (=veraltete Bezeichnung für eine Altersdepression, Pschyrembel) [...] Erwerbsminderung noch 25%."

In einer Untersuchung am 27.07.1951 schreibt der damalige Oberarzt Dr. Krauss, Hamburg-Ochsenzoll: "Als Hauptbeschwerden gibt sie an, noch jetzt unter den Eindrücken ihrer damaligen (1938–40) Haft zu leiden: ‘Wenn ich irgendwelchen Dingen begegne, die mich an die Haft erinnern, deprimiert mich das so stark‘ Als Beispiel gibt sie u.a. den Anblick gestreifter Stoffe an, die sie an Haftkleider erinnern‘. Auch wenn sie Schäferhunde sähe, beeindrucke sie die Erinnerung an die damaligen Wachhunde so stark, dass sie sofort heftigen Kopfdruck spüre und in deprimierte Stimmung verfalle. Dies behindere sie weitgehend beim Zeichnen (Malerin). ‘Ich krieche nur über das Papier… Ich habe das Gefühl, als ob ich heruntergezogen würde und mich nicht wieder aufraffen könnte‘ [...] Frl. Suhr zeigte eine deprimierte Stimmung und brach teilweise in Tränen aus, was allerdings ein wenig krampfhaft wirkte [...] Auf psychischem Gebiet scheint allerdings noch keine Besserung eingetreten zu sein. Diese letztere Tatsache darf man allerdings nicht als eine notwendige unvermeidliche Haftfolge werten. Seelische Eindrücke, auch wenn sie sehr tief waren, gleichen sich, wenn man der Natur ungehindert ihren Lauf lässt, allmählich wieder aus. Bei Frl. S. hingegen besteht eine deutliche Neigung, jene schweren Eindrücke festzuhalten, indem sie sich immer wieder in die damaligen Erlebnisse hineinsteigert, was aber nicht nötig ist. Typisch hierfür ist folgende Formulierung: Als sie neulich hörte, dass ein Bekannter von ihr vergast worden sei, ‘war es mir, als ob ich selbst Kohle wäre und zerbröckelte.‘ Für derartige Reaktionen ist aber nicht die Haft als solche, sondern die Eigenart der Persönlichkeit die Ursache. Hinzukommt eine beginnende Arteriosklerose, vor allem wahrscheinlich der kleinen Hirngefäße, die eine gewisse Affektlabilität verursachen. Diese ist aber natürlich altersbedingt und nicht Haftfolge."


Das fand Anita Suhr schon damals empörend. Joachim Künkel fand ein paar lose Zettel von ihr: "Ansonsten kommt es doch wohl auch darauf an, was für eine Haftzeit jeder Einzelne hinter sich hat. Denn es war für mich furchtbar in einer Zelle liegend unter deren Fenster der sogenannte ‘Sport‘ der SS ausgeführt wurde, wo ich das Stöhnen und Keuchen und die gemeinen Flüche der SS mit anhören musste".

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Anders, einfühlsam und immer wieder drängend schreibt ihr Hausarzt Dr. Kurt Winkler aus Tangstedt am 07.11.1957: „Frl. Suhr steht seit 7 Jahren in nahezu ununterbrochener Behandlung bei mir. Sie ist schwer leidend, da sie, wie ich überzeugt bin, in der langen KZ-Haft doch schwere körperliche und seelische Schäden genommen hat [...] Ich erlebe häufig Zustände von nahezu unerträglicher Konzentrationslosigkeit, dabei wird dann über migräneartige Kopfschmerzen und allgemeinem Angstgefühl geklagt [...] Die im KZ erlittenen schweren Insulte mögen auch mit dem Ausbleiben der Menses, bereits mit 35 Jahren während der KZ- Haft, im Besonderen eindrucksvoll erklärt sein [...]“


Sie konnte über die Haftzeit und ihr politisches Leben nicht sprechen.

 Bemüht richtete sie Ihre Gedankenwelt auf Kunst, Zahlenmystik, Philosophisches. Das ist etwas Typisches für die Überlebenden von KZ-Haft – nicht Reden können. Der amerikanische Psychiater William G. Niederland hat viele sogenannte Wiedergutmachungsverfahren aufgearbeitet. Er spricht von dem Überlebenden-Syndrom, ein Zustand des seelischen Überwältigt- und Verringertseins: „An Millionen Menschen wurde, wie wir heute wissen, tatsächlicher Mord verübt. An den meisten derjenigen, die entkamen und überlebten, war es Seelenmord.“ –William G. Niederland (aus „Das Überlebendensyndrom – Seelenmord”)

Und dennoch: Es gab diese kreative Schaffensphase ab Ende der 50er Jahre. Die Bilder, an denen wir uns heute freuen dürfen – die Kunst, die bleibt! 


Sie verstarb 1991 im Krankenhaus Eilbek. In einem skizzenhaft geführten Tagebuch fand Joachim Künkel folgenden Eintrag:

„Ja, ohne Rinde ist Holz nicht geschützt. Ohne Selbsterkenntnis, ohne Menschenkenntnis ist Friede unter den Menschen nicht möglich. Warum?“


Texte von Dr. Maike Bruhns und Joachim Künkel